Was wir jedoch zur Zeit erleben, ist, dass auch Demokratien in einer ständigen Gefahr der verderblichen Verirrung leben, nicht zuletzt weil sie in Zeiten der ökonomischen Globalisierung zunehmend unter die Herrschaft unregulierter Märkte geraten, die die Würde des Menschen – unverzichtbare normative Grundlage demokratischer Politik – unterminieren. Denn sie polarisieren in Arm und Reich und provozieren immer wieder zerstörerische Krisen. Davor hat Papst Franziskus gleich zu Beginn seines Pontifikats gewarnt. Hier Abhilfe zu schaffen, tangiert massive Machtinteressen.
Unter dem Aspekt der demokratischen Gleichheit hat Alexis de Tocqueville darüber hinaus schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts in seinem berühmten Buch „Über die Demokratie in Amerika“ vor einer Gefährdung der Demokratie durch die „Tyrannei der Mehrheit“ gewarnt, die in der demokratischen Gleichheit angelegt sei. Diese unumkehrbare demokratische Gleichheit verführt nämlich zu der falschen Idee, dass die Wahrheit immer bei der Mehrheit liegt. Dem muss man institutionell durch Minderheitenschutz und kulturell durch öffentlich mahnende, nonkonformistische Autoritäten vorbeugen.
Immer wieder warnt Tocqueville auch in seinem Buch „Der alte Staat und die Revolution“ vor der knechtischen Gesinnung, die zu einem verantwortungslosen Gebrauch der Freiheit verführt, weil sie sich im eigenen Interesse falschen Autoritäten unterwirft. Nur wenn man sich gleichzeitig der Autorität der demokratischen, auf die Würde des Menschen ausgerichteten Werteordnung unterordnet, kann Freiheit gedeihen. Angesichts der menschlichen Gebrechlichkeit und der Versuchung der Macht braucht gerade eine Demokratie deshalb Menschen, die als Autoritäten einen verantwortlichen unabhängigen Gebrauch der Freiheit vorleben und so zu ihrem Erhalt beitragen. Bürger dürfen sich nicht opportunistisch zugunsten ihrer Partikularinteressen den jeweils aktuellen Mehrheiten in der öffentlichen Meinung unterwerfen.
Dass in der Gegenwart viele Menschen – beschränkt auf die innerweltliche Perspektive – gerade in der Politik nach Autoritäten suchen, ist ebenso offensichtlich wie gefährlich. Die Gefahr liegt darin, hinter die Aufklärung zurückzufallen und als politisch verantwortliche Bürger weder den Mut noch die Kraft aufzubringen, „sich seines eigenen Verstandes zu bedienen“. Lieber möchte man sich einer Autorität anschließen, sich freiwillig der „Tyrannei der Mehrheit“ unterwerfen und sich den Mühen der eigenen Urteilsbildung entziehen, auch der Unannehmlichkeit, gelegentlich sogar öffentlich gegen den Strom zu schwimmen.
Demokratische Politik aber soll eine solche verführerische Autorität nicht ausüben, sondern ihrerseits von unabhängigen Autoritäten aus der Gesellschaft heraus kontrolliert und womöglich mitgestaltet werden.
Tocqueville dachte dabei nicht nur an einzelne Persönlichkeiten, sondern auch an „Assoziationen“. Er beobachtete sie in der „Demokratie in Amerika“ als Gegengewicht gegen die Individualisierung, die die Menschen voneinander isoliert und so schwächt.Hannah Arendt sah später die Atomisierung in der Massengesellschaft als einen Ursprung totalitärer Herrschaft. Gemeinwohlorientierte Nichtregierungsorganisationen sind vielleicht zeitgemäße Exemplare solcher Tocqueville’scher Assoziationen. Sie haben den Vorteil, nicht gewählt werden zu müssen, und können deshalb im vorstaatlichen Raum für unabhängige Ideen mobilisieren.
Gegen die Versuchung, sich unmündig persönlichen Autoritäten zu unterwerfen, könnten auch Persönlichkeiten als „antiautoritäre Autoritäten“ helfen, die die menschliche Gebrechlichkeit für sich selbst akzeptieren, gerade keine Unfehlbarkeit beanspruchen; die nicht Gefolgschaft einfordern, sondern zur Eigenständigkeit einladen. Die zur Ebenbürtigkeit – zur gemeinsamen Gotteskindschaft – in Solidarität ermutigen und Freude aus der Quelle der Frohen Botschaft springen lassen. Der Gedanke, dass Papst Franziskus in der Katholischen Kirche global als eine solche „antiautoritäre“, nicht berechenbare und nicht berechnende Autorität aufritt und handelt, erscheint mir sehr reizvoll.
Mit seiner Spontaneität konterkariert er den Anspruch der Unfehlbarkeit und gerade das macht ihn zu einer Autorität, auf die man hört, ohne ihr unreflektiert folgen zu sollen. Papst Franziskus muss sich dann nicht dauernd um sein mediales Echo kümmern, sondern kann seinem Glauben, dem Evangelium und der darin verheißenen Freude folgen und öffentliche Anstöße geben. In diesem Sinne beginnt denn auch sein erstes Sendschreiben über die Freude des Evangeliums („Evangelii Gaudium“): „Die Freude des Evangeliums erfüllt das Herz und das gesamte Leben derer, die Jesus begegnen. Diejenigen, die sich von ihm retten lassen, sind befreit von der Sünde, von der Traurigkeit, von der inneren Leere und von der Vereinsamung. Mit Jesus Christus kommt immer – und immer wieder die Freude.“
Ein politischer Papst, der als ausdrücklich Fehlbarer seine Autorität ausübt und die Menschen freudig zu ihrer eigenen Gotteskindschaft ermutigt – wäre das nicht ein zukunftsträchtiges Rollenverständnis für die Katholische Kirche?"
Gesine Schwan, Die nichtberechenbare Autorität, Herder Korrespondenzen Spezial 1/2015
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