Freitag, 20. März 2015

Halten, Öffnen

"Die Tradition umfasst also zwei Seiten, wobei die eine wie die andere gleichermaßen einen Lebensvorgang darstellt: eine Seite der Entwicklung wie zugleich eine Seite der Bewahrung. Darum kann man sich entweder vor allem deshalb an sie halten, weil man die Reinheit des Offenbarungsschatzes bewahren will, auf die Gefahr hin, die Gegenwart der Zukunft zu verschließen, oder vor allem deshalb, weil man auf der Suche nach der Fülle die Gegenwart der Zukunft öffnen will. Es besteht zwischen der Reinheit und der Fülle eine Art Spannung oder Dialektik, bei der keiner der beiden Pole geopfert werden darf. Man versteht, dass das Lehramt, dessen erste Sendung es ist, einen Schatz zu bewahren und weiterzugeben, mehr mit der Sorge um die Reinheit beschäftigt ist, und man versteht, dass es seine Pflicht ist, das zu sein. Angesichts der Gefährdungen, die die Zeit ihr bereitet, ist die erste Reaktion der Kirche immer eine unwillkürliche Bewegung des Bewahrens. Das ist normal. Aber es gehört auch zu ihrer Sendung, das Evangelium in möglichst gleichstark mitwachsender Ausdehnung in eine Menschheit hinein zu entfalten, die unaufhörlich wächst, nicht alleine nach ihren äußeren und messbaren Dimensionen, sondern nach ihren inneren Dimensionen."

Yves Congar,Tradition und Kirche, 1964

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen