Freitag, 18. Januar 2013

Selbst-Zweck

"Wenn man also sich mit Philosophie beschäftigte, um dem Zustande des Nichtverstehens abzuhelfen, so hat man offenbar nach dem Wissen gestrebt, um ein Verständnis der Welt zu erlangen, und nicht um eines äußerlichen Nutzens willen. Dasselbe wird durch einen weiteren Umstand bezeugt. Diese Art von Einsicht nämlich begann man erst zu suchen, als die Menge dessen, was dem Bedürfnis, der Bequemlichkeit oder der Ergetzung dient, bereits vorhanden war. Offenbar also treibt man sie um keinerlei äußeren Nutzens willen. Sondern wie wir sagen: ein freier Mann ist der, der um seiner selbst willen und nicht für einen anderen da ist, so gilt es auch von dieser Wissenschaft. Sie allein ist freie Wissenschaft, weil sie allein um ihrer selbst willen getrieben wird.
Insofern dürfte man vielleicht mit Recht sagen, daß ihr Besitz über des Menschen Natur hinaus liegt. Denn vielfach ist die Natur des Menschen unfrei, und nach Simonides kommt Gott allein jenes Vorrecht zu, für den Menschen aber, meint er, sei es ein Vorwurf, sich nicht auf diejenige Wissenschaft zu beschränken, die für ihn paßt. Wenn man nun etwas auf die Dichter geben darf und es wirklich in der Götter Art liegt, neidisch zu sein, so ist es verständlich, daß dies in diesem Punkte am meisten zutrifft, und daß alle, die zu hoch hinaus wollen, daran zugrunde gehen. Aber weder hat es einen Sinn, daß die Gottheit neidisch sei – vielmehr geht es auch hier nach dem Sprichwort: Viel lügen die Sänger zusammen; – noch soll man eine andere Wissenschaft suchen, die wertvoller wäre als diese. Vielmehr ist sie die göttlichste und erhabenste, und diesen Wert hat sie allein, und sie hat ihn in doppelter Beziehung. Denn göttlich ist erstens die Wissenschaft, die Gott am meisten eigen ist, und ebenso wäre göttlich zweitens die, die das Göttliche zum Gegenstande hätte. Dieser Wissenschaft allein nun kommt beides zu. Denn daß Gott zu den Gründen gehört und Prinzip ist, ist selbstverständlich, und andererseits besitzt nur Gott diese Wissenschaft, oder doch Gott im höchsten Grade. Nötiger mögen also alle andern Wissenschaften sein als diese; wertvoller als sie ist keine."

Aristoteles, Metaphysik, Erstes Buch, 982f. (Übersetzung Lasson, Jena 1907)