Mittwoch, 20. Mai 2015

Geburt des Neuen und die Wehen:Transformation

"Muss noch darauf hingewiesen werden, dass diese Betrachtungen über das Wesen und die Natur eines neuen gedachten Christentums, das wir als in der Vernunft gegründet und unter diesem Gesichtspunkt als logisch notwendig ansehen, gleichzeitig die Schwierigkeiten zeigen an denen sich eine derartige Auffassung bei ihrer Verwirklichung im Dasein stößt, solange die Christen es nicht nur mit einer religiös und philosophisch gespaltenen Zivilisation zu tun haben, sondern einerseits mit gewaltsam gegen das Christentum gerichteten historischen Kräften, andererseits – in der christlichen Welt selbst – mit eindeutigen Vorurteilen von sehr schwerem historischen Gewicht und schließlich mit irrationalen Massenströmungen, die blind von den Widersprüchen einer Zivilisation beherrscht werden, die den Menschen nicht mehr gemäß ist."

Jacques Maritain, Christlicher Humanismus, 138

Sphinx der Geschichte; Fortschritt

"Es ist, nebenbei bemerkt, recht eigenartig, dass ein im Fortgang der Geschichte erreichter Fortschritt, wie die staatliche Toleranz, zunächst für die Kräfte des Irrtums als Maske oder Vorwand gedient hat, die vom Christentum übernommenen Wahrheiten gegen dieses selbst zu kehren, - während dann das Christentum sich um die Aufrechterhaltung dieses Fortschritts bemüht, den man im Kampf gegen es selber gewonnen zu haben behauptete, in dessen die Kräfte des Irrtums plötzlich ihre Marschrichtung ändern und sich um die Zerstörung dieses selben Fortschritts bemühen, dessen sie sich zuerst gerühmt hatten."

Jacques Maritain,  Christlicher Humanismus, 136

Dienstag, 12. Mai 2015

Zu späte Einsicht?

"Zu spät beginnt er (der Rationalismus) einzusehen, das einzig ein der Vernunft überlegener Glaube, der die Tätigkeit des Geistes und des Gemütes belebt, eine Einheit unter den Menschen sicherstellen kann, die nicht auf dem Zwang, sondern auf der inneren Zustimmung begründet ist, und dass allein dieser Glaube die gewiss natürliche Daseinsfreude, die aber von der Natur allein nicht am Leben erhalten werden kann  (die heidnische Weisheit hielt es für das Beste, nicht geboren zu sein), in eine verständige Begeisterung verwandelt.
Es ist sehr bezeichnend, dass einzig das Christentum gegenwärtig in mehreren für die abendländische Zivilisation lebenswichtigen Punkten als befähigt erscheint, die Freiheit der Person und – insofern es auf die zeitliche Ordnung einzuwirken vermag – die positiven Freiheiten zu verteidigen, die auf der sozialen und politischen Ebene jener geistigen Freiheit entsprechen.
So finden wir wieder die augenscheinlich in sich am meisten folgerichtigen historischen Positionen vor und dazu noch die uralten christlichen Glaubenskämpfe gegen den Despotismus der Mächte des Fleisches."

Jacques Maritain, Der christliche Humanismus, 1950,126