Freitag, 24. Juli 2015

In der Situation handeln

"Eine Pastoral, die den Wegcharakter der sittlichen Reifung anerkennt, muss versuchen, den Sinngehalt von Normen zu vermitteln und so die Menschen zu befähigen, sich die Werte, die durch Normen geschützt werden, durch persönliche SinnEinsichten anzueignen. Erst dann werden auch kirchliche Normen nicht mehr als lebensfremd oder als unerreichbares Ideal erfahren werden. So sehr das Anliegen des Lehramtes berechtigt ist, die objektive Dimension des sittlich Guten und Richtigen zu schützen, kann eine objektive Norm dann doch nicht die Gewissensentscheidung des Einzelnen ersetzen. Diese Lehre zieht sich übrigens wie ein roter Faden durch die gesamte moraltheologische Tradition. Seit Thomas von Aquin ist die Unterscheidung zwischen dem Urgewissen (synderesis) und dem Situationsgewissen (syneidesis, consciencia) gängig. Das Urgewissen ist ein unfehlbares Bewusstsein und Wissen darum, dass das Gute zu tun und das Böse zu meiden ist, während das Situationsgewissen in einer konkreten Handlungs- und Entscheidungssituation die aktuelle Verwirklichung dessen zu leisten hat, was als sittlich gut und richtig erkannt worden ist. In diesem Prozess der konkreten Verwirklichung dessen, was man als gut erkannt hat oder wenigstens erkannt zu haben glaubt, so Thomas von Aquin, ist das Situationsgewissen anfällig für Fehler. Dennoch ist man auch dem irrigen Gewissen verpflichtet, wenn der Irrtum nicht erkannt wird und Gewissenszweifel behoben sind. Deshalb bleibt das Subjekt verpflichtet, nach dem sittlich Richtigen zu suchen, es zu erkennen und ihm gemäß zu urteilen. Bleibt dies aus beziehungsweise bemüht sich jemand zu wenig um die sittliche Einsicht, kann er dadurch schuldig werden, auch wenn der angehalten bleibt, dem konkreten Gewissensurteil zu folgen. Für den Einzelnen bleibt das Gewissen die letzte Instanz, in der er ein sittliches Urteil fällt, auch wenn die oberste Instanz die objektive Wahrheit ist. An ihr misst sich, ob sich jemand in seinem Gewissensurteil irrt oder nicht. Als letzte Instanz jedoch verpflichtet das Gewissen immer, so dass man immer gut handelt, wenn man dem eigenen Gewissensspruch folgt: "Es ist nie Schuld, der gewonnenen Überzeugung zu folgen – man muss es sogar." (J. Ratzinger, Werte in Zeiten des Umbruchs, 120) In diesem Sinne betont auch Johannes Paul II., dass nicht eine Norm, sondern das Gewissen das letzte konkrete Urteil darstellt. Zudem ist zu bedenken, dass – besonders im Verständnis des Gehorsams im Glauben – zwischen Glaubens- und Sittenlehre ein Unterschied zu machen ist und dass es bester theologischer Tradition entspricht, dass ein Christ nach reiflicher Prüfung und einem religiös bestimmten Eingehen auf Lehraussagen im Bereich der Sittenlehre zu einem von kirchlichem Lehramt abweichenden Urteil kommen kann und diesem auch folgen darf. Auf diesem Hintergrund ist es problematisch, in solchen Fällen von vornherein einen Akt des Ungehorsams oder ein irriges – und zudem noch überwindlich irriges – Gewissensurteil anzunehmen."

Den Eros entgiften, Martin M. Lindner, 82f.