Donnerstag, 30. April 2015

An den Rändern der Demokratie

"Vielleicht liegt die Chance dieses Papstes nun gerade darin, dass er sich – im Unterschied zu (demokratisch gewählten) Politikern – nicht um die Öffentlichkeit kümmern muss und auch nicht um sie kümmert. Denn er muss nicht wiedergewählt werden. Das ist aus demokratischer Sicht eine ketzerische und nicht ungefährliche Überlegung. Sie lässt sich nur halten, wenn man den Unterschied zwischen einer gestifteten Kirche – die immer zugleich Civitas Terrena und Civitas Dei ist, und auf die Hilfe des Heiligen Geistes hoffen darf – und einem demokratischen Gemeinwesen im Blick behält, das sich mit der Innerweltlichkeit bescheiden muss. Die nicht-demokratische Seite der Katholischen Kirche lässt sich allerdings nur mit dem Glauben an die Göttlichkeit des Stifters und an seine gnädige Begleitung der Kirche rechtfertigen, sonst wären verderbliche Folgen ihrer hierarchischen und vielfach intransparenten Struktur nicht zu vermeiden. Deren Gefahr besteht jedenfalls immer fort.
Was wir jedoch zur Zeit erleben, ist, dass auch Demokratien in einer ständigen Gefahr der verderblichen Verirrung leben, nicht zuletzt weil sie in Zeiten der ökonomischen Globalisierung zunehmend unter die Herrschaft unregulierter Märkte geraten, die die Würde des Menschen – unverzichtbare normative Grundlage demokratischer Politik – unterminieren. Denn sie polarisieren in Arm und Reich und provozieren immer wieder zerstörerische Krisen. Davor hat Papst Franziskus gleich zu Beginn seines Pontifikats gewarnt. Hier Abhilfe zu schaffen, tangiert massive Machtinteressen.
Unter dem Aspekt der demokratischen Gleichheit hat Alexis de Tocqueville darüber hinaus schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts in seinem berühmten Buch „Über die Demokratie in Amerika“ vor einer Gefährdung der Demokratie durch die „Tyrannei der Mehrheit“ gewarnt, die in der demokratischen Gleichheit angelegt sei. Diese unumkehrbare demokratische Gleichheit verführt nämlich zu der falschen Idee, dass die Wahrheit immer bei der Mehrheit liegt. Dem muss man institutionell durch Minderheitenschutz und kulturell durch öffentlich mahnende, nonkonformistische Autoritäten vorbeugen.
Immer wieder warnt Tocqueville auch in seinem Buch „Der alte Staat und die Revolution“ vor der knechtischen Gesinnung, die zu einem verantwortungslosen Gebrauch der Freiheit verführt, weil sie sich im eigenen Interesse falschen Autoritäten unterwirft. Nur wenn man sich gleichzeitig der Autorität der demokratischen, auf die Würde des Menschen ausgerichteten Werteordnung unterordnet, kann Freiheit gedeihen. Angesichts der menschlichen Gebrechlichkeit und der Versuchung der Macht braucht gerade eine Demokratie deshalb Menschen, die als Autoritäten einen verantwortlichen unabhängigen Gebrauch der Freiheit vorleben und so zu ihrem Erhalt beitragen. Bürger dürfen sich nicht opportunistisch zugunsten ihrer Partikularinteressen den jeweils aktuellen Mehrheiten in der öffentlichen Meinung unterwerfen.
Dass in der Gegenwart viele Menschen – beschränkt auf die innerweltliche Perspektive – gerade in der Politik nach Autoritäten suchen, ist ebenso offensichtlich wie gefährlich. Die Gefahr liegt darin, hinter die Aufklärung zurückzufallen und als politisch verantwortliche Bürger weder den Mut noch die Kraft aufzubringen, „sich seines eigenen Verstandes zu bedienen“. Lieber möchte man sich einer Autorität anschließen, sich freiwillig der „Tyrannei der Mehrheit“ unterwerfen und sich den Mühen der eigenen Urteilsbildung entziehen, auch der Unannehmlichkeit, gelegentlich sogar öffentlich gegen den Strom zu schwimmen.
Demokratische Politik aber soll eine solche verführerische Autorität nicht ausüben, sondern ihrerseits von unabhängigen Autoritäten aus der Gesellschaft heraus kontrolliert und womöglich mitgestaltet werden.
Tocqueville dachte dabei nicht nur an einzelne Persönlichkeiten, sondern auch an „Assoziationen“. Er beobachtete sie in der „Demokratie in Amerika“ als Gegengewicht gegen die Individualisierung, die die Menschen voneinander isoliert und so schwächt.Hannah Arendt sah später die Atomisierung in der Massengesellschaft als einen Ursprung totalitärer Herrschaft. Gemeinwohlorientierte Nichtregierungsorganisationen sind vielleicht zeitgemäße Exemplare solcher Tocqueville’scher Assoziationen. Sie haben den Vorteil, nicht gewählt werden zu müssen, und können deshalb im vorstaatlichen Raum für unabhängige Ideen mobilisieren.
Gegen die Versuchung, sich unmündig persönlichen Autoritäten zu unterwerfen, könnten auch Persönlichkeiten als „antiautoritäre Autoritäten“ helfen, die die menschliche Gebrechlichkeit für sich selbst akzeptieren, gerade keine Unfehlbarkeit beanspruchen; die nicht Gefolgschaft einfordern, sondern zur Eigenständigkeit einladen. Die zur Ebenbürtigkeit – zur gemeinsamen Gotteskindschaft – in Solidarität ermutigen und Freude aus der Quelle der Frohen Botschaft springen lassen. Der Gedanke, dass Papst Franziskus in der Katholischen Kirche global als eine solche „antiautoritäre“, nicht berechenbare und nicht berechnende Autorität aufritt und handelt, erscheint mir sehr reizvoll.
Mit seiner Spontaneität konterkariert er den Anspruch der Unfehlbarkeit und gerade das macht ihn zu einer Autorität, auf die man hört, ohne ihr unreflektiert folgen zu sollen. Papst Franziskus muss sich dann nicht dauernd um sein mediales Echo kümmern, sondern kann seinem Glauben, dem Evangelium und der darin verheißenen Freude folgen und öffentliche Anstöße geben. In diesem Sinne beginnt denn auch sein erstes Sendschreiben über die Freude des Evangeliums („Evangelii Gaudium“): „Die Freude des Evangeliums erfüllt das Herz und das gesamte Leben derer, die Jesus begegnen. Diejenigen, die sich von ihm retten lassen, sind befreit von der Sünde, von der Traurigkeit, von der inneren Leere und von der Vereinsamung. Mit Jesus Christus kommt immer – und immer wieder die Freude.“
Ein politischer Papst, der als ausdrücklich Fehlbarer seine Autorität ausübt und die Menschen freudig zu ihrer eigenen Gotteskindschaft ermutigt – wäre das nicht ein zukunftsträchtiges Rollenverständnis für die Katholische Kirche?"
Gesine Schwan, Die nichtberechenbare Autorität, Herder Korrespondenzen Spezial 1/2015

Montag, 27. April 2015

(Streitfragen)

"In jenen Tagen erfuhren die Apostel und die Brüder in Judäa, dass auch die Heiden das Wort Gottes angenommen hatten. Als nun Petrus nach Jerusalem hinaufkam, hielten ihm die gläubig gewordenen Juden vor: Du hast das Haus von Unbeschnittenen betreten und hast mit ihnen gegessen.
Da begann Petrus, ihnen der Reihe nach zu berichten: Ich war in der Stadt Joppe und betete; da hatte ich in einer Verzückung eine Vision: Eine Schale, die aussah wie ein großes Leinentuch, das an den vier Ecken gehalten wurde, senkte sich aus dem Himmel bis zu mir herab. Als ich genauer hinschaute, sah ich darin die Vierfüßler der Erde, die wilden Tiere, die Kriechtiere und die Vögel des Himmels.
Ich hörte auch eine Stimme, die zu mir sagte: Steh auf, Petrus, schlachte und iss! Ich antwortete: Niemals, Herr! Noch nie ist etwas Unheiliges oder Unreines in meinen Mund gekommen. Doch zum zweiten Mal kam eine Stimme vom Himmel; sie sagte: Was Gott für rein erklärt hat, nenne du nicht unrein! Das geschah dreimal, dann wurde alles wieder in den Himmel hinaufgezogen. Da standen auf einmal drei Männer vor dem Haus, in dem ich wohnte; sie waren aus Cäsarea zu mir geschickt worden. Der Geist aber sagte mir, ich solle ohne Bedenken mit ihnen gehen. Auch diese sechs Brüder zogen mit mir und wir kamen in das Haus jenes Mannes. Er erzählte uns, wie er in seinem Haus den Engel stehen sah, der zu ihm sagte: Schick jemand nach Joppe und lass Simon, der Petrus genannt wird, holen. Er wird dir Worte sagen, durch die du mit deinem ganzen Haus gerettet werden wirst.
Während ich redete, kam der Heilige Geist auf sie herab, wie am Anfang auf uns. Da erinnerte ich mich an das Wort des Herrn: Johannes hat mit Wasser getauft, ihr aber werdet mit dem Heiligen Geist getauft werden. Wenn nun Gott ihnen, nachdem sie zum Glauben an Jesus Christus, den Herrn, gekommen sind, die gleiche Gabe verliehen hat wie uns: wer bin ich, dass ich Gott hindern könnte?
Als sie das hörten, beruhigten sie sich, priesen Gott und sagten: Gott hat also auch den Heiden die Umkehr zum Leben geschenkt."
Apostelgeschichte 11,1–18

"Das Problem ist nicht eine solche Neigung zu haben. Nein! Wir sind Brüder. Weil, das ist eine, aber wenn es eine andere gibt, dann ist's eine andere..Wenn eine Person schwul ist und sich Gott anvertraut und nach Gottes Wille lebt, warum sollte ich sie dann verurteilen?"

Papst Franziskus, Fliegende Pressekonferenz 29.7.2013, https://www.youtube.com/watch?v=fxPtz5ab5-Q

Freitag, 17. April 2015

Die unbedingte Notwendigkeit der AUFERSTEHUNG

"Aber auch die Seligkeit der vom Leibe getrennten Seele kann nicht das Endziel der Menschen sein. Wie nämlich unsere Betrachtung zeigte, kann man nicht von einem Leben oder Endziel nur eines der beiden Teile, die das Menschenwesen konstituieren, reden, sondern nur von einem Leben und Endziel des Ganzen. Ein solches Ganze aber ist jeder Mensch, der dieses Leben erlost hat, und sein Leben muß ein eigenes Endziel haben. Wenn es aber nur ein Endziel des Ganzen gibt, dieses Endziel aber aus den schon wiederholt angeführten Gründen weder in diesem Leben, solange die Menschen noch auf Erden sind, gefunden werden kann noch auch dann, wann die Seele vom Leibe getrennt ist, weil nach der Auflösung oder auch vollständigen Zerstreuung des Leibes trotz des Fortbestandes der Seele der Mensch nicht so vorhanden ist, wie er nun einmal nach der Beschaffenheit seines Wesens sein muß, so ist es absolut notwendig, daß sich das Endziel der Menschen in einer neuen Zusammenstellung des wiederum aus beiden Teilen bestehenden Wesens zeige. Da dies ein zwingender Schluß ist, so muß unter allen Umständen eine Auferstehung der entseelten oder auch ganz aufgelösten Leiber stattfinden und es müssen die nämlichen Menschen wieder in der Doppelnatur ihres Wesens auftreten. Denn das Naturgesetz bestimmt das Endziel nicht blindlings und auch nicht als Endziel irgendwelcher beliebigen Menschen, sondern als Endziel gerade jener, die früher einmal schon gelebt haben; nun aber können die nämlichen Menschen nicht wieder erscheinen, wenn nicht die nämlichen Leiber den nämlichen Seelen zurückgegeben werden. Daß aber die nämliche Seele wieder den nämlichen Leib erhält, ist auf anderem Wege nicht möglich; das kann nur durch die Auferstehung geschehen. Erst wenn diese eingetreten ist, kann das der menschlichen Natur entsprechende Endziel erfolgen. Das Endziel eines verständigen Lebens und logischen Unterscheidens wird man aber, ohne fehl zu gehen, darin erblicken dürfen, daß der Mensch unzertrennlich und ewig mit dem zusammenlebt, wozu ihm der natürliche Verstand hauptsächlich und zunächst verliehen ist, und daß er in der Anschauung des Gebers und seiner Ratschlüsse unaufhörliche Wonne empfindet. Freilich werden die meisten Menschen dieses hohe Ziel nicht erreichen, weil sie sich mit allzu großer Leidenschaft und Heftigkeit an die Dinge dieser Welt anschließen. Aber die große Zahl derer, die von ihrem Ziele abirren, kann die gemeinsame Bestimmung nicht umstoßen. Indes findet hierüber ein besonderes Gericht statt und erhält jeder einzelne für sein Gutes oder Böses, das er im Leben vollbracht hat, in angemessener Weise Lohn oder Strafe."

Athenagoras, Über die Auferstehung der Toten, 25

Montag, 6. April 2015

AUFERSTEHUNG: Zu sich kommen und gebracht werden. Zu und in ihn kommen

"Wollen wir die Sache so betrachten! Jeder Unglaube, der nicht leichtfertig und unüberlegt gehegt wird, sondern auf einen triftigen Grund und auf feste Überzeugung hin bei diesem oder jenem sich einnistet, hat Berechtigung, wenn die in Frage kommende Sache selbst unglaublich erscheint. Aber an Dinge nicht zu glauben, die nicht unglaublich sind, verrät Mangel an gesundem Wahrheitssinn. Daher sollten diejenigen, die sich in der Auferstehungsfrage des Unglaubens oder Zweifels nicht entschlagen können, nicht nach ihrer unüberlegten subjektiven Meinung oder nach dem Vorurteil der Zügellosen darüber entscheiden, sondern sie sollten entweder die Entstehung der Menschen von keiner Ursache abhängig machen (das aber läßt sich sehr leicht widerlegen) oder aber, indem sie in Gott den Urgrund alles Seienden suchen, die Grundlage dieser Lehre betrachten und mittels derselben den Beweis liefern, daß die Auferstehung durchaus nicht glaubwürdig ist. Dies wird ihnen aber erst dann gelingen, wenn sie nachweisen können, daß es weder in Gottes Macht noch in Gottes Willen liege, die entseelten oder auch schon ganz verwesten Leiber wieder zu einigen und zur Zusammensetzung der nämlichen Menschen zu verbinden. Können sie dies aber nicht, weg dann mit diesem gottlosen Unglauben, weg mit den frivolen Lästerungen! Mögen sie nämlich behaupten, die Auferstehung sei mit Gottes Macht oder sie sei mit Gottes Willen unvereinbar, sie treffen nicht das Richtige. Die nachfolgende Abhandlung wird dies deutlich zeigen. 
Unvermögen ist in Wahrheit offenbar dann vorhanden, wenn einer gar nicht weiß, was werden soll, oder wenn er es zwar weiß, aber nicht auszuführen vermag. Wer nämlich von dem, was werden soll, nichts weiß, wird, was er nicht weiß, überhaupt nicht anfangen und vollenden können; und wer zwar ganz gut weiß, was gemacht werden soll, und auch die Mittel und Wege hiezu kennt, aber die Macht, das Erkannte auszuführen, überhaupt nicht hat oder nicht in ausreichendem Maße hat, wird es, wofern er klug ist und seine Macht überlegt, von Anfang an nicht versuchen; hat er es aber unüberlegter Weise begonnen, wird er das Beschlossene nicht vollenden können.
Nun aber ist es ganz ausgeschlossen, daß Gott die Natur der zur Auferstehung bestimmten Leiber nicht kennt nach all ihren Teilen und Teilchen, daß er nicht weiß, wohin ein jedes Teilchen der sich auflösender Körper gerät und welcher Teil der Materie das Aufgelöste und zu dem ihm Verwandten Hinzugetretene aufgenommen hat, wenn auch menschlichen Augen das mit dem All in naturgemäßem Anschluß wiedervereinigte völlig ununterscheidbar vorkommt. Er, der schon vor der eigenartigen Zusammensetzung eines jeden Organismus die Natur der zu schaffenden Grundstoffe kannte, aus denen die Menschenleiber bestehen, und der auch wußte, aus welchen Teilen derselben er das zur Zusammensetzung des menschlichen Leibes Nötige nehmen sollte, weiß selbstverständlich auch nach der Auflösung des Ganzen, wo ein jedes der von ihm zum Aufbau der einzelnen Leiber verwendeten Atome hingekommen ist. Nach der jetzt für uns geltenden Ordnung der Dinge und nach der Beobachtung, die wir sonst machen, ist das Vorherwissen des Nochnichtseienden mehr; aber für Gottes Würde und Weisheit ist beides naturgemäß und ist das Vorherwissen des Nochnichtseienden nicht schwieriger als die Kenntnis des Aufgelösten."

Athenagoras (2. Jhd.) - Über die Auferstehung der Toten (De Resurrectione)


FROHE OSTERN!

Samstag, 4. April 2015

Intermezzo:Die Grabesstille stören

(Also normal mache ich das nicht, aber heute..sei auch seiner Seele
die Befriedung in Seinem Tod und an Seinem im Grab liegenden Leib gewünscht
und eine Wandlung seiner aufgeregten Tollheit
auch in und zum Segen und der Fruchtbarkeit neuer Welt....



Der tolle Mensch
Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittag eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: "Ich suche Gott! Ich suche Gott!"
Da dort gerade viele von denen zusammenstanden, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter.
Ist er denn verlorengegangen? sagte der eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der andere.
Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? - so schrien und lachten sie durcheinander.
Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken.
"Wohin ist Gott?" rief er, "ich will es euch sagen!
Wir haben ihn getötet - ihr und ich! 
Wir sind seine Mörder! Aber wie haben wir das gemacht? 
Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? 
Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen?
Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun?
Wohin bewegen wir uns?
Fort von allen Sonnen?
Stürzen wir nicht fortwährend? 
Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten?
Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht durch ein unendliches Nichts? 
Haucht uns nicht der leere Raum an?
Ist es nicht kälter geworden?
Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?
Müssen nicht Laternen am Vormittag angezündet werden?
Hören wir noch nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben?
Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? - auch Götter verwesen!
Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet!
Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder?
Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unsern Messern verblutet - wer wischt dies Blut von uns ab? 
Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? 
Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen?
Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns?
Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? 
Es gab nie eine größere Tat - und wer nun immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!"
Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, dass sie in Stücke sprang und erlosch. "Ich komme zu früh", sagte er dann, "ich bin noch nicht an der Zeit.
Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert - es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Taten brauchen Zeit, auch nachdem sie getan sind, um gesehen und gehört zu werden. Diese Tat ist ihnen immer noch ferner als die fernsten Gestirne - und doch haben sie dieselbe getan!" - Man erzählt noch, dass der tolle Mensch desselbigen Tages in verschiedenen Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur dies entgegnet: "Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Gräber und die Grabmäler Gottes sind?"

F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft)

Mittwoch, 1. April 2015

Erinnern, Zeugen: Kara

                              Alfred Delp SJ, 1907 - 2. 2. 1945, Gefängnis Berlin-Plötzensee*
                                                                              

"Noch einmal stellen sich Blut und Not und Untergang dem betrachtenden Geist. Die Geschichte kennt viele Untergänge. Sie kennt sehr oft den Untergang des Guten und Echten unter der Übermacht und Gewalt des Bösen. Der Mensch spricht dann ebenso oft und gern vom sühnenden Opfer, vom fruchtbaren Tod des Samenkorns, vom neuen Sieg, der aus dem Leid erblühen wird. Das ist manchmal richtig und manchmal falsch. Wer in der Geschichte untergeht, nur weil er einer aufsteigenden Entwicklung, auch einer zwar sachlich richtigen, aber ethisch falsch geführten Entwicklung im Wege steht, der stirbt keinen geschichtlich fruchtbaren Tod. Über das innerste Geheimnis des persönlichen Sterbens wissen nur zwei Bescheid: Gott und der verlöschende Mensch. Geschichtlich wirksam als sühnendes Opfer und als fruchtbarer Weckruf neuer geschichtlicher Wirklichkeit ist nur der Untergang mit wehender Fahne; der Untergang im Kampf um die rechte Ordnung und Gestalt der Geschichte. Auch die verlassenste Qual und das einsame Versinken im öden Winkel, in den die Gewalt einen Menschen verschleppen mag, hat diese Zeugniskraft, die immer auch eine Zeugungskraft ist, wenn dies alles bewusst übernommen wird als Einsatz und Treue für das göttliche Antlitz, das in der Geschichte sich darstellen will.
Geschichte ist innerhalb ihrer Ordnung und ihrer Möglichkeiten auf das Zeugnis und die Entscheidung der Menschen gestellt. Sie ist vom Menschen her ein agonales Geschehen, und wer um die Geschichte nicht gekämpft hat, darf sich nicht wundern, wenn er sie verlor und wenn sie ihn vergaß."

aus Das Rätsel der Geschichte, 1941

*hingerichtet wegen Teilnahme am Widerstand gegen das Staatsregime. Im Kreisauer Kreis spiritus rector des Entwurfes einer neuen wohlfahrtlichen und gerechten Staatsordnung für die Zeit nach dem Untergang. Diese macht bis heute einen Großteil der Matrix der bundesrepublikanischen Sozial- und Gesellschaftsordnung aus.

**  Santo subito!