Freitag, 30. Januar 2015

Bekehrung

"In einem Interview erzählt der französische Schriftsteller Michael Houellebecq, dass die Todesfälle, die er in kurzer Zeit hintereinander erlebt habe, ein Anlass gewesen seien, seinen Roman Unterwerfung zu schreiben. Sein Atheismus habe den Tod seines geliebten Hundes und seiner Eltern nicht verkraften können. Der Verlust sei für ihn kaum auszuhalten gewesen. Auch der Protagonist seines Romans, François, begibt sich, von einer Sehnsucht nach dem Verbindlichen getrieben, auf Sinnsuche. Der ursprüngliche Titel des Romans sollte nicht Unterwerfung, sondern Bekehrung heißen.  Im ersten Romanentwurf bekehrt sich der Erzähler zum Katholizismus. In der endgültigen Fassung wendet er sich vom dekadenten, erschöpften Abendland ab und wird Muslim. Was wir heute brauchen, ist eine andere Lebensform, die aber weder rechts noch links ist, eine Lebensform, die Verbindliches und Verbindendes hervorzubringen vermag, ohne dass es eine Form von Gewalt und Ausschluss annimmt, eine Lebensform, in der auch der Spiritualität jenseits der Esoterik als Therapieform, die nur systemverursachte Schäden repariert, Raum gegeben wird, eine Lebensform, der ein wirkliches Geben, ein wirkliches Teilen jenseits des sharing möglich wird. Vielleicht muss dieser neuen Lebensform keine Revolution vorausgehen. Ganz im Gegenteil. In seinem berühmten Kafkaaufsatz schreibt Walter Benjamin: „Im Buckligen Männlein hat das Volkslied das Gleiche versinnbildlicht. Dieses Männlein ist der Insasse des entstellten Lebens; es wird verschwinden, wenn der Messias kommt, von dem ein großer Rabbi gesagt hat, dass er nicht mit Gewalt die Welt verändern wolle, sondern nur um ein Geringes sie zurechtrücken werde.“"

Byung-Chul Han, ZEIT vom 29.01.2015

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