Samstag, 31. August 2013

Unfassbare Macht

"Der Mensch ist frei und kann seine Macht gebrauchen, wie er will. Eben darin aber liegt die Möglichkeit, sie falsch zu gebrauchen; falsch im Sinne des Bösen wie des Zerstörenden. Was garantiert den rechten Gebrauch? Nichts. Es gibt keine Garantie dafür, dass die Freiheit sich richtig entscheide. Was es geben kann, ist nur eine Wahrscheinlichkeit, und sie liegt darin, dass der gute Wille zur Gesinnung, zur Haltung, zum Charakter wird. Die vorurteilslose Prüfung muss aber – wir haben es bereits bemerkt – feststellen, dass eine Charakterbildung, welche den richtigen Gebrauch der Macht wahrscheinlich machte, fehlt. Der neuzeitliche Mensch ist auf den ungeheuren Aufstieg seiner Macht nicht vorbereitet. Es gibt noch keine richtig durchdachte und wirksam geprägte Ethik des Machtgebrauches; noch weniger eine Erziehung dazu, weder einer Elite nach der Gesamtheit.
Mit alledem hat die konstitutive Gefahr, die in der Freiheit liegt, eine bedenkliche Form angenommen. Wissenschaft und Technik haben die Energien der Natur wie des Menschen selbst derart zur Verfügung gestellt, dass Zerstörungen schlechthin unabsehbaren Ausmaßes, akute wie chronische, eintreten können. Mit genauestem Recht kann man sagen, dass von jetzt an ein neuer Abschnitt der Geschichte beginnt. Von jetzt an und für immer wird der Mensch am Rande einer sein ganzes Dasein betreffenden, immer stärker anwachsenden Gefahr leben.
Nimmt man dann noch die oben beschriebene, einschläfernde Vorstellung einer in sich gesicherten und Sicherheit schaffenden Kultur hinzu, so sieht man, wie wenig die heutige Menschheit vorbereitet ist, das Erbe des bisherigen Machterwerbs zu verwalten. Jederzeit kann die Situation sie überrennen. Und nicht nur die schlaffen Elemente in ihr, sondern auch, nein gerade die Aktiven, die Eroberer, Organisatoren, Führer. Das erste ungeheure Beispiel dafür haben wir in den letzten beiden vergangenen Jahrzehnten erlebt. Die Dinge sehen aber nicht so aus, als ob es wirklich und von hinreichend Vielen verstanden worden sei. Immer wieder gewinnt man den Eindruck, als ob das Mittel, mit welchem die flutartig ansteigenden Probleme bewältigt werden, im letzten doch die Gewalt sei. Das hieße aber, dass der falsche Gebrauch der Macht zur Regel wird."

Romano Guardini, Das Ende der Neuzeit, 1950

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