Donnerstag, 19. Februar 2015

An den Grenzen

"Ich kann nur schwer sehen, wie ein Leben, das sich an den genannten Werthaltungen (Altruismus, Redlichkeit, Gerechtigkeit, Solidarität, Vergebung) orientiert, über lange Zeit und unter allen Umständen durchzuhalten sein soll, wenn der absolute Wert der moralischen Norm nicht in metaphysischen Prinzipien oder in einem personalen Gott begründet werden kann. 
Es ist von größter Bedeutung, dass es hier im Bereich der Ethik zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen eine gemeinsame Ebene gibt, damit wir für den Fortschritt der Humanität und in der Förderung der Gerechtigkeit und des Friedens zusammen arbeiten können. Es ist offensichtlich, dass der Appell an die Menschenwürde ein Prinzip darstellt, dass ein gemeinsames Denken und Handeln begründet: den anderen nie als Mittel zum Zweck zu benutzen, seine Unverletzlichkeit unter allen Umständen und immer zu achten, in jeder Person jederzeit ein unverfügbares und unantastbares Wesen zu sehen. Aber auch hier stellt sich an einem bestimmten Punkt die Frage nach der letzten Rechtfertigung dieser Prinzipien. Was begründet dann letztlich die Menschenwürde, wenn nicht die Tatsache, dass jedes menschliche Wesen eine Person ist, die sich auf etwas Höheres und Größeres hin, als sie selbst ist, öffnet? Nur dann ist es nicht möglich, sie mit innerweltlichen Begriffen zu erfassen, nur dann wird ihr die Unverfügbarkeit zugesprochen, die nichts auf der Welt infrage stellen kann. 
Es ist mir ein großes Anliegen, alles  das zu vertiefen, was ein gemeinsames Handeln von Gläubigen und Nichtgläubigen auf der Ebene der Förderung der Person ermöglicht. Aber ich weiß auch, dass dann, wenn über die letzten Prinzipien keine Übereinstimmung besteht, früher oder später, vor allem dann, wenn Grenzfälle und Grenzfragen berührt werden, ganz plötzlich die grundlegenden Differenzen aufbrechen. Die Zusammenarbeit wird so äußerst prekär, und es zeigt sich dann oft, dass zu den wesentlichen Fragen des Lebens und des Sterbens grundsätzliche ethische Urteile aufeinandertreffen.
Was soll man dann tun? In Bescheidenheit und Demut im gemeinsamen Handeln fortfahren, wo Übereinstimmung besteht, und darauf hoffen, dass die tieferliegenden Differenzen und Gegensätze nicht aufbrechen? Oder soll man versuchen, die Gründe, die faktisch zu einer Übereinstimmung in allgemeinen Fragen – zum Beispiel in der Frage der Gerechtigkeit, des Friedens, der Menschenwürde – geführt haben, zu vertiefen, um so zu jenen nicht ausgesprochenen Gründen zu gelangen, die hinter dem alltäglichen Handeln stehen und in denen sich die grundlegende Übereinstimmung dann eben zeigt oder auch nicht zeigt? Oder gibt es auch die Möglichkeit, über Skeptizismen und Agnostizismen hinaus auf ein "Geheimnis" zuzugehen und sich ihm anzuvertrauen, weil es aus solcher Vertrauenshaltung heraus auch möglich wird, ein gemeinsames Handeln für eine menschlichere Welt zu begründen?
Zu dieser bewegenden Frage würde ich gerne ihre Überlegungen hören. Die Diskussion von ethischen Detailfragen führt nun halt einmal immer dazu, dass man sich die grundlegenden Fragen stellen muss. Nach meinem Dafürhalten lohnt es die Mühe, auch solche Fragen zu erörtern, um wenigstens ein wenig mehr Klarheit zu gewinnen, was jeder denkt, und besser zu verstehen,was der andere vertritt."

Carlo Maria Martini an Umberto Eco, Woran glaubt, wer nicht glaubt?, 1996

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