Dienstag, 24. Februar 2015

Mögliche Hermeneutik des Lebens?

"Im Gebet werden wir uns bewusst, dass diese Welt – eher als der Kant'sche Sternenhimmel über uns und das moralische Gesetz in uns" – jener Acker ist, in dem der Schatz Gottes verborgen ist. Der Acker ist die Welt, sagt Jesus zu seinen Jüngern, als er ihnen das Gleichnis vom Sämann erklärt. ... 
Die Antwort Gottes ist unser eigenes Leben, gelesen jetzt in Ruhe und mit gewissem Abstand, im Licht des Wortes Gottes, vor seinem Gesicht. Ein Text, dessen oftmals verschlungene Chiffren wir mit dem Schlüssel des Evangeliums lesen können (und das Evangelium verstehen wir, wie schon gesagt wurde, immer wieder und immer tiefer durch die eigenen Lebenserfahrungen). Im Gebet und in der Meditation wird das Leben, dieser schnell verlaufende Strom von Erlebnissen, erst in eine Erfahrung verändert; unreflektierte Wortfetzen verändern sich zu einem sinnvollen Text, das zu heiße Eisen unserer Gefühle oder der Verbrennungen unseres Lebens wird auf dem Ambos der Schrift umgeschmiedet. Ja, das Gebet ist eine Schmiede Gottes, es ist nicht nur eine stille Ecke des wonnevollen Schlummerns der edlen Seelen, es geht hier manchmal sehr heiß zu!
Häufig spreche ich vom "Segen des unerhörten Gebets". Erst angesichts einer solchen Erfahrung gerät der Mensch an die wirkliche Schwelle des Glaubens. Wenn der Mensch (oft nur im Verborgenen oder ohne es zuzugeben) Gott bis dato für einen Automaten hielt, der zuverlässig und fehlerfrei seine Bestellungen ausführt, muss er sich jetzt davon überzeugen lassen, dass Gott so nicht funktioniert, dass ein solcher Gott, als zuverlässiges, leistungsstarkes Gerät im Haushalt des Menschen, wirklich nicht existieren kann. Wenn der Mensch einen solchen Gott und eine solche Religion verwirft, dann tut er sehr gut daran. Erst dann nämlich öffnet sich ihm die Chance zu begreifen, dass es im Glauben und im Gebet eher darum geht, dass wir uns bemühen, die Wünsche Gottes zu begreifen. Hier sollen wir Kraft und Weisheit schöpfen und die großzügige Bereitschaft entwickeln, die Wünsche Gottes unseren Wünschen und Forderungen vorziehen zu können. Ein solcher Weg wird jedoch sicher kein breiter Weg für viele sein."

Tomas Halik, Berühre die Wunden. Über Leid, Vertrauen und die Kunst der Verwandlung, 2014, S.132ff

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