Freitag, 3. August 2012

Einbruch Gottes in uns


"Wer erniedrigt den Verstand wirklich?
Jetzt möchte ich erklären, wie die Intuition Gregors von Nyssa uns Gläubigen helfen kann, unseren Glauben zu vertiefen und dem modernen Menschen, der den „fünf Wegen“ der traditionellen Theologie gegenüber skeptisch geworden ist, einen Weg zu zeigen, der ihn Gott wieder näher bringen kann.
Das Neue, das Gregor ins christliche Denken einführte, ist, dass man die Grenzen des Verstandes überschreiten muss, um Gott zu begegnen. Das ist das genaue Gegenteil von Kants Versuch, die Religion „innerhalb der Grenzen der Vernunft“ zu halten. In der heutigen säkularisierten Kultur ist man noch über Kant hinausgegangen: für ihn war im Namen der „praktischen Vernunft“ die Existenz Gottes immerhin noch ein „Postulat“; die späteren Rationalisten leugnen auch dies.
Daher verstehen wir, wie aktuell die Gedanken Gregors von Nyssa sind. Er beweist, dass der Verstand nicht von der Suche nach Gott ausgeschlossen ist; dass man nicht gezwungen ist, zwischen dem Glauben und dem eigenen Verstand eine Wahl zu treffen. Indem der Mensch in die Wolke, also in den Glauben, eintritt, verzichtet er nicht auf seinen Verstand, sondern geht über ihn hinaus, was etwas ganz anderes ist. Er schöpft gewissermaßen seinen Verstand ganz aus und ermöglicht es ihm, seinen edelsten Akt zu vollbringen, denn, wie Pascal sagt: „Der höchste Akt der Vernunft besteht in der Erkenntnis, dass es unendlich viele Dinge gibt, die über sie hinausgehen“.
Der heilige Thomas von Aquin, der zu Recht als einer der unermüdlichsten Streiter für die Rechte des Verstandes gilt, schrieb: „Man sagt, am Ende unserer Erkenntnis erkenne man Gott als den Unbekannten, weil unser Geist seine tiefste Gotteserkenntnis dann erreicht hat, wenn er merkt, dass sein Wesen alles überragt, was man auf Erden begreifen kann“. Im selben Augenblick, in dem der Verstand seine Grenzen erkennt, durchbricht er sie und geht über sie hinaus. Er begreift, dass er nicht begreifen kann, „sieht, dass er nicht sehen kann“, wie Gregor von Nyssa sagt; er sieht aber auch ein, dass ein verstandener Gott kein Gott mehr wäre. Der Verstand ist es, der dies erkennt; daher handelt es sich wirklich um einen Verstandesakt. Es ist buchstäblich eine „belehrte Unwissenheit“.
Daher muss man eher das Gegenteil anerkennen, nämlich, dass jene, die dem Verstand diese Möglichkeit über sich hinauszugehen nicht zugestehen, ihm Grenzen setzen und ihn erniedrigen. „Bisher“, schreibt Kierkegaard, „hat man immer gesagt: ‚Wer behauptet, das oder jenes könne nicht begriffen werden, befriedigt nicht die Wissenschaft, die begreifen will‘. Das ist ein Fehler. Genau das Gegenteil muss man sagen: sollte die menschliche Wissenschaft sich weigern anzuerkennen, dass es Dinge gibt, die sie nicht begreifen kann, oder – deutlicher noch – Dinge, von denen sie deutlich ‚begreift, dass sie sie nicht begreifen kann‘, dann gerät alles durcheinander. Es ist daher eine Aufgabe der menschlichen Erkenntnis, einzusehen, dass es Dinge gibt, die sie nicht begreifen kann“.
Doch welche Art von Finsternis ist das? Von der Wolke, die sich zwischen die Ägypter und die Israeliten legte, heißt es, sie sei für die einen dunkel und für die anderen hell gewesen (vgl. Ex 14,20). Die Welt des Glaubens ist dunkel für die, die sie von außen betrachten, aber hell für die, die in sie eintreten. Es ist eine besondere Helligkeit, die eher das Herz erleuchtet als den Verstand. In der „Dunklen Nacht“ Johannes’ vom Kreuz (eine Variante zu Gregors Thema der Wolke!) erklärt die Seele, dass sie auf dem neuen Weg voranschritt, „und nichts ihr Strahlen sandte, als jenes Leitlicht, das im Herzen brannte“. Dieses Licht jedoch ist „sicherer als die Mittagssonne“.
Die selige Angela von Foligno, eine der wichtigsten Vertreterinnen dieser Vision Gottes in der Finsternis, sagt, dass die Muttergottes „so unsagbar tief mit der allerhöchsten, unfassbaren Dreifaltigkeit vereint war, dass sie zu Lebzeiten jenes Glück kennenlernte, welches die Heiligen im Paradies verspüren, nämlich das Glück der Nichterkenntnis (gaudium incomprehensibilitatis), weil sie begreifen, dass man nicht verstehen kann“. Diese Worte sind eine schöne Ergänzung der Lehre Gregors über die Unmöglichkeit, Gott zu erfassen. Sie versichern uns, dass diese Unmöglichkeit uns nicht erniedrigt oder uns irgendetwas nimmt, sondern dazu da ist, um den Menschen mit Begeisterung und Freude zu erfüllen; sie sagen uns, dass Gott unendlich viel größer, schöner, besser ist, als wir ihn uns je vorstellen könnten, und dass er all dies unseretwegen ist, damit unser Glück vollkommen sei, damit uns nie der Gedanke berühre, es könne langweilig werden, die Ewigkeit bei Ihm zu verbringen!
Auch Gregors Idee vom „Spüren einer Gegenwart“, das er als Gipfel der Gotteserkenntnis betrachtet, ist für eine Konfrontation mit der modernen Religionskultur nützlich. Die religiöse Phänomenologie hat eine Tatsache enthüllt, die mit unterschiedlichen Reinheitsgraden in allen Kulturen und allen Zeiten vorhanden ist, nämlich das „Gefühl des Göttlichen“, d.h. jenes Gemisch aus Furcht und Anziehung, das den Menschen ergreift, wenn er sich plötzlich dem Übernatürlichen und Überrationalen gegenübersieht. Wenn die Verteidigung des Glaubens, der am Anfang erwähnten neuen Einstellung der Apologetik zufolge, „zugunsten einer Pädagogik des geistlichen Erlebens, deren jedem Menschen angeborene Möglichkeit anerkannt wird“ in den Hintergrund rückt, dürfen wir die Hilfsmittel nicht missachten, die uns die moderne religiöse Phänomenologie bietet.
Natürlich sind das „gewisse Spüren Seiner Gegenwart“ Gregors von Nyssa und das undeutliche Gefühl, der Schauder des Übernatürlichen zweierlei, aber die beiden Dinge haben auch etwas gemeinsam. Das eine ist der Beginn eines Weges, der zur Entdeckung des lebendigen Gottes führt, das andere ist der Endpunkt dieses Weges. Die Gotteserkenntnis, sagt Gregor, beginnt mit einem Übergang von der Finsternis zum Licht und endet mit einem Übergang vom Licht zur Finsternis. Man kann nicht zum zweiten gelangen, ohne durch das erste gegangen zu sein; d.h., ohne sich erst von der Sünde und von den Leidenschaften befreit zu haben. „Ich hätte mich längst von den Vergnügungen abgewandt, wenn ich den Glauben hätte“, sagt der Zügellose. Aber Pascal antwortet darauf: „Du hättest längst den Glauben, wenn du dich von den Vergnügungen abgewandt hättest“.
Das Bild das uns, dank Gregor von Nyssa, auf dieser ganzen Meditation begleitet hat, ist das Bild Moses, der zum Sinai aufsteigt und in die Wolke hineingeht. Das nahe Osterfest gebietet uns, über dieses Bild hinauszugehen, um vom Symbol zur Wirklichkeit zu gelangen. Es gibt noch einen anderen Berg, auf dem ein anderer Mose Gott begegnet ist, während „eine Finsternis im ganzen Land“ herrschte (Mt 27,45). Auf dem Kalvarienberg hat der Mensch gewordene Gott, Jesus von Nazareth, den Menschen für immer mit Gott vereint. Am Ende seines „Pilgerbuchs der Seele zu Gott“ schreibt der heilige Bonaventura:
„Nach all diesen Überlegungen bleibt unserem Verstand nur noch eines: sich durch sein Denken nicht nur über diese sinnliche Welt, sondern sogar über sich selbst hinaus zu erheben; und in diesem Aufstieg ist Christus der Weg und die Tür, Christus die Leiter und das Fuhrwerk… Wer aufmerksam und mit Glauben, Hoffnung und Liebe, andächtig und jubelnd, mit Verehrung und Lobpreisung auf ihn schaut, wie er am Kreuze hängt, der erfüllt mit ihm das Osterfest, das heißt, den Übergang“.
Möge der Herr Jesus uns gewähren, dieses schöne und heilige Osterfest mit ihm zu begehen!"

aus P. Dr. Dr. Raniero Cantalamessa OFMCap, 4. Fastenpredigt im Päpstlichen Haus 2012, Der Heilige Gregor von Nyssa und der Weg zur Erkenntnis Gottes, http://www.cantalamessa.org/?p=1628&lang=de

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