Sonntag, 24. Februar 2013

Über die Kraft des Denkens

"Sodann das Urteil selbst über das Leben derjenigen, von denen wir reden, werden wir nur dann imstande sein richtig zu fällen, wofern wir den Gerechtesten und den Ungerechtesten einander gegenüberstellen, sonst nicht. Wie stellen wir sie nun einander gegenüber? Folgendermaßen: Nehmen wir weder dem Ungerechten etwas von seiner Ungerechtigkeit [E] noch dem Gerechten etwas von seiner Gerechtigkeit, setzen wir vielmehr beide als vollendet in ihrem Treiben. Fürs erste nun der Ungerechte handle wie die großen Meister, etwa wie ein ausgezeichneter Steuermann oder Arzt das in seiner Kunst Mögliche und das Unmögliche zu unterscheiden weiß und jenes unternimmt,  [361 St.2 A]  dieses unterläßt und überdies, wenn er je einmal einen Mißgriff gemacht hat, imstande ist, ihn zu verbessern, ebenso muß der Ungerechte, wenn er ganz ungerecht sein soll, seine ungerechten Handlungen so geschickt angreifen, daß man sie nicht bemerkt, einen, der sich ertappen läßt, muß man für einen schlechten halten, denn die äußerste Ungerechtigkeit ist: gerecht zu scheinen, während man es nicht ist. Man muß nun dem vollendeten Ungerechten die vollendetste Ungerechtigkeit zuteilen und nichts davon nehmen, [B] sondern zugeben, daß er, während er die größten Ungerechtigkeiten begeht, sich den größten Ruf hinsichtlich der Gerechtigkeit erworben hat, und falls er je einen Mißgriff begeht, ihn zu verbessern imstande ist, indem er überzeugend zu sprechen vermag, wenn etwas von seinen Ungerechtigkeiten zur Anzeige kommt, und Gewalt anzuwenden, wo immer Gewalt erforderlich ist, durch Mut und Stärke und den Besitz von Freunden und Mitteln. Nachdem wir diesen in solcher Art aufgestellt haben, wollen wir den Gerechten in der [C] Erörterung neben ihn stellen, einen geraden und edlen Mann, der, wie Aischylos sagt, nicht gut scheinen, sondern sein will. Das Scheinen also muß man wegnehmen. Denn wenn er gerecht scheint, so werden ihm als einem so Scheinenden Ehren und Geschenke zufallen, und es ist dann ungewiß, ob er wegen des Gerechten oder um der Ehren und Geschenke willen so ist. Man muß ihn also alles andern außer der Gerechtigkeit entkleiden und seine Lage als der des Vorigen entgegengesetzt darstellen, [D] während er nämlich keine Ungerechtigkeit begeht, soll er den größten Schein der Ungerechtigkeit haben, damit er hinsichtlich der Gerechtigkeit geprüft sei, ob er sich nicht erweichen lasse von der Verleumdung und deren Folgen, und er bleibe unwandelbar bis zu seinem Tode, sein Leben lang ungerecht erscheinend, in Wirklichkeit aber gerecht, damit beide, wenn sie die äußerste Grenze erreicht haben, der eine in der Gerechtigkeit, der andere in der Ungerechtigkeit, beurteilt werden, wer von beiden der glücklichere sei.
Ei, ei, sagte ich, mein lieber Glaukon, [E] du säuberst ja die beiden Leute für die Beurteilung so gründlich wie Bildsäulen!
So sehr ich nur kann, versetzte er. Sind beide so beschaffen, so ist es, glaube ich, nicht mehr schwer, darzulegen, was für ein Leben beider wartet. Also heraus damit, und falls es etwas plump ausfällt, so glaube, Sokrates, daß nicht ich rede, sondern die, die die Ungerechtigkeit mehr preisen als die Gerechtigkeit. Sie werden denn sagen, daß der so genannte Gerechte unter diesen Umständen gegeißelt, gefoltert, gebunden werden wird, daß ihm die Augen ausgebrannt werden, und daß er zuletzt nach allen Mißhandlungen gekreuzigt werden und  [362 St.2 A]  einsehen wird, daß nun gerecht nicht sein, sondern scheinen muß. Das Wort des Aischylos würde also viel richtiger auf den Ungerechten angewendet. Denn in Wahrheit werden sie sagen, daß der Ungerechte, sofern er etwas treibt, das mit der Wahrheit zusammenhängt, und nicht nach dem Scheine lebt, nicht ungerecht erscheine, sondern sein wolle.
Und eine tiefe Furche zieht er durch den Geist,
Aus der hervorsproßt wohlbedachter Rat,
[B] zuerst zu regieren im Staat, weil er als gerecht erscheint, dann zu heiraten, aus welchem Hause er will, und zu verheiraten, an wen er will, sich anzuschließen und zu verbinden, mit wem er Lust hat, und über das alles Vorteil und Gewinn zu haben, weil er sich das Unrechttun nicht verdrießen läßt. Infolgedessen wird er in Kämpfen, persönlichen und öffentlichen, über die Feinde siegen und die Oberhand gewinnen, [C] infolge davon reich werden, seinen Freunden wohltun und seinen Feinden schaden können und den Göttern Opfer und Weihgeschenke in großer Zahl und aufglänzende Weise darbringen und viel besser als der Gerechte den Göttern und denjenigen Menschen, denen er will, dienen, so daß er natürlich auch auf die Liebe der Götter einen größeren Anspruch hat als der Gerechte. So sagen sie, Sokrates, daß von Göttern und Menschen dem Ungerechten das Leben angenehmer gemacht werde als dem Gerechten."

Platon, Politeia, Buch II, Die Gegenüberstellung des vollkommen Ungerechten und des vollkommen Gerechten, 360e - 262c, 370 v. Chr.

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