Freitag, 5. Juli 2013

Das Mainzer Tryptichon I Die Dankbarkeit der Existenz


„Das Leben im Glauben heißt, insofern es Gotteskindschaft ist, das ursprüngliche und tiefgreifende Geschenk anerkennen, auf dem das menschliche Leben beruht, und kann in dem Satz des heiligen Paulus an die Korinther zusammengefasst werden: »Was hast du, das du nicht empfangen hättest?« (1 Kor 4,7).“ 

Lumen fidei, Franziskus, 19

Es könnte die Behauptung aufgestellt werden, dass das Kennzeichen unserer heutigen Zeit die tendenziell totale Abwesenheit der allgemeinen Dankbarkeit, bzw. überhaupt eines Dankbedürfnisses und einer Danknotwendigkeit der allgemeinen Existenz gegenüber ist. 

Dass überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts und damit auch dass das Konkrete und Bestimmte, das ist und das wir sind, ist, ist auch für den heutigen Menschen als ein Möglichkeitsverhältnis seines Denkens nicht selbstverständlich. Der heutige, übermäßig in der Fülle und der Gesamtheit des Innerweltlichen, Dinghaften und Atmosphärischen aufgängige Mensch, ist oder wäre durchaus in der Lage, diesen Gedanken der Frage nach einem möglichen Verdanken und damit einer allg. Dankbarkeit des Gesamten wegen zu verstehen und nachzuvollziehen. Er tut es einfach auch aus dem Grund nicht, weil er übermäßig, sagen wir, weltlich berauscht und benebelt und opiatisiert ist, um sich so mit seiner Existenz zunehmend der eines komatösen bewußtseins- und damit selbstbewußtseins- und dann auch vor allem freiheitslosen und sich entnommenen Subjekts, einer totalen vegetativen Objektivität und Vitalität anzunähern, in welcher er entweder der völligen hypnotischen Manipulierbarkeit oder Erweckbarkeit ausgesetzt und angenähert ist. 

Andererseits ist es aber auch so, dass das Verhältnis einer allgemeinen Dankbarkeit oder Dankbarkeitsfähigkeit in Bezug auf das allgemeine Vorhandenheit des Seins und der Existenz (samt eben ihrem Konkreten und in ihrem Konkreten als solchen) nicht eine Frage der Epoche ist. Es ist an sich ein schwieriges, ja fast übernatürliches Phänomen, was daran ersichtlich wird, dass eine vollausgebildete instrumentale-, technische- und observatorische Vernunft noch in ihrer extremsten Ausprägung nicht einen Anflug einer Dankbarkeitsnotwendigkeit verspüren muß und völlig in der infinitesimal-immanenten Auflösung der Möglichkeitsbedingungen des Präsenten aufgehen kann, ohne einen Augenblick jene Wende und jenen transzendentalen Schock des Bedingungssprungs zu vollziehen, welcher darin besteht, sich trotz der perfektionistischen Annäherung an das Wie warum nach dem Warum des Seins des Ganzen und des Solchen als solchen zu fragen. 
So ist, das muß zugegeben werden, das Verhältnis der Dankbarkeit gerade im reflexen Bezug der eigenen Existenz und Existenzialität eines der schwierigsten, existenzial und existenziell komplexesten und unnatürlichsten. 
Das Subjekt muß über sich hinaus greifen und sich als gegeben und davor als vorhanden wahr- und ver-nehmen. Es muß sich in seiner Existenz und Existenzialität objektiviert haben, was ja schon für das „Normalbewußtsein“ ein Akt der Unmöglichkeit ist und wäre. 

So gesehen geht eine Überlegung und Erwägung des Dankbarkeits- und des fehlenden Dankbarkeitsverhältnisses, das muß offen zugestanden werden, von einem ganzen Gebirg von Voraussetzung aus und bewegt sich somit innerhalb von Konstellationen, die auch wenn sie abwesend und schwundig sind, die prägnatesten sind. 
Verkürzend kann gesagt werden, dass sich eine solche Forderung und Konstellation innerhalb eines theistischen Welt- und Wirklichkeits- und Selbstwahrnehmungsbildes und -grundes bewegt, welcher jenes Verhältnis der Dankbarkeit bedingt und dann aufrechterhält. 

In diesem Sinne hängt die Feststellung des Schwundes einer allg. Dankbarkeit der Existenz gegenüber ihrer allg. Vorhandenheit und Gegebenheit auch und vor allem wesentlich mit dem Schwund oder eigentlicher gesagt mit der existenzial-ontologischen Verstellung des wahrhaftigen kreationistischen Gottes- und Schöpfungsverhältnisses zusammen. Die Neuzeit ist wesentlich eine Zeit, die sich durch die und aus der Durchstreichung der göttlichen Präsenz und Omnipräsenz  und Transzendenz nährt und aufbaut. 
In diesem Sinne kann und muß man sagen, dass die Neuzeit zu Ende ist. Sie hat sich erfüllt. Sie hat sich perfektioniert und vollendet. In allen ihren Varianten, den theoretischen und praktischen. Was nicht heißt, dass ihre Phänomenalitäten, Präsenzen und Variationen nicht repetitierbar sind und re-produziert werden, um einen wesentlichen Teil unserer heutigen Zeit auszumachen. Mit Nietzsche aber und Feuerbach und mit den perfektionistischen und perfektionierten Systemen der allgemeinen immanentistischen Menschenvernichtung, dem Nationalsozialismus und dem stalinistischen Sozialismus ist jene Zeit zu ihrer Apotheose gelangt und hat sich somit erfüllt. 

Wo befinden wir uns aber jetzt? 

Ich würde die folgende Charakterisierung wagen: 

Was die Immanentisierung und die antitranszendentale Abschneidung und Abdichtung der Wirklichkeits- und Selbstwahrnehmung und -projektion anbelangt, befinden wir uns in einem zunehmend globalisierten Zustand perpetuierter Nihilisierung und Objektivierung. Was heißt das? 
Die allgemeine Herkunftslosigkeit und bloße Faktizität der Wirklichkeit  und ihr reiner Ereignischarakter erfahren im mehrfach repetuierten Zustand einen Vergegenstädlichungsprozeß. D.h. sie werden zunehmend als gegenständliche Faktizität auch sogar des Gesamts der Wirklichkeit vernommen. Dieser Vergegenständlichungsprozeß aber terminiert ein Phänomen, das erneut den Raum für eine Frage des Warum des Vorhandenen eröffnet und provoziert, der aber, weil er nicht gestellt werden darf, ein Vakuumphänomen und keine Druckphänomen verursacht. 
Zur gleichen Zeit laufen allgemeine Totalisierungsbewegungen der „leichten und produktiven Abdeckung“ des Faktizitätsraumes ab. Diese sind die globale Event-medialisierung, die Totalökonomisierung, die universalistische Diskursivierung oder diskursive Universalisierung, die Retraditionalisierung und die Totalglobalisierung (als Bemühung der Aufrichtung der totalen Macht des totalen Gebilds). 
Wie man leicht merken kann, verlaufen die Zugkräfte allgemeinexistenzial besehen entgegengesetzt und verursachen damit eine kraftzehrende Zerrungsbewegung, welche sich nicht anders als implosiv entwickeln kann. Das System neigt zu einer depressiven Implosion und Selbstzerstörung,
wenn es nicht in jene Bewegung abgelenkt wird und von jener Bewegung erfasst wird, welche es in den Zugzwang der Frage nach der Verdankbarkeit und dem Warum der Verdankbarkeit zieht, um es auf eine Entwicklung zu eröffnen, die es in eine erneute und nun transnatural fruchtbare Bewegung und Formationsbewegung zieht und hineinstellt, die es allererst (und gerade aus dem und am Tiefpunkt des nihilistischen Selbstschwundes) zu seiner Realisation, zur Realisation einer wirklichen Wirklichkeit und zur d.h. zur Verwirklichung einer göttlichen Wirklichkeit (aber aus der Welt und mit der Welt und durch die Welt und d.h. vermittels der Welt), zur Verwirklichung der Basileia tou Theou, des Reiches Gottes aus und durch die inkarnierte Ordnung versetzt, um so quantensprungartig (und gerade im Augenblick des Absterbens und des Verschwindens der „Religion“ und ihrer symbolischen Gesamt- und Weltordnung) auch die Religion „durch die Welt zu retten“ und zwar so indem sie die Basileia selbst verwirklicht, ohne ein Simulakrum ihrer selbst bilden und damit sich in eine systemische Aporie und zu einem vorprogrammierten Scheitern bringen zu müssen.
Denn jetzt wirkt der Gott, welcher der Gott der Liebe und als die Liebe ist, und welcher durch die Einrichtung der Dankbarkeitsbewegung ihm gegenüber und zu ihm hin, jene Vollendungsbewegung und -verwirklichung instand setzt und auf den Weg bringt, in welcher Unternehmung die Welt und die Menschenpersonen zu ihrer Verwirklichung und die Welt zu ihrer Vollendung kommt. 

Dankbarkeit wird zur Einrichtung der Perfektion, einer perfektionierten Welt, welche sich in ihrer Dankbarkeitsbewegung und in ihrem Dankbarkeitsvollzug unendlich freigibt und unendlich wiedererhält und somit unendlich befreit und unendlich bereichert und „vermehrt“. 

Die Ökonomie und dann auch Politik der Dankbarkeit und davor eine Anthropologie und Theologie der Dankbarkeit und der Freigabe sind die Antwortschlüssel auf die Schibollets unseres widersprüchlichen, aporetischen Lebens, der allgemeinen Widerspruchs- und Aporie und Virtualitätsaporiekonstellation des modernen Lebens, welche eine Postmoderne verwirklichen soll und muß, um eine wirkliche Zeit und damit um eine wirkliche Welt und ein wirkliches Selbst, eine wirkliche Oikonomia und eine wirkliche Politeia zu werden. 


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen