Mittwoch, 17. Oktober 2012

Vertrottelung

"Muß man nicht davon ausgehen, daß die den Haß und die Verzweiflung bzw. die Apathie nährenden Gegensätze nur dann in nichtkatastrophischer Weise überwunden werden können, daß also die Armen und Ausgebeuteten nur dann ohne Explosion des Hasses aus ihrem beschädigten, von Anbeginn entstellten Leben heraustreten können, wenn es in den reichen Ländern dieser Erde (und nicht nur bei den mitleidlos reichen Raffern innerhalb der unterdrückten Völker selbst) zu einer Revision der Lebensprioritäten kommt, wenn also hier eine Umkehr der Herzen gelingt? Werden nicht moralische Maßnahmen zu einer weltpolitischen Größe - oder umgekehrt, rücken nicht in neuer Weise Ökonomie und Politik in die Moral ein?
Christen sind davon überzeugt, daß eine solche moralische Umkehr sich nicht selbst trägt, wenn sie nicht von Religion getragen ist. Sie gehen davon aus, daß, wo Religion nicht nur unter den sogenannten Aufklärungseliten verschwindet, sondern wo sich auch im Volk das Gerücht von der Existenz Gottes nicht mehr hält, die "Seele" des Menschen selbst erlischt und schließlich die Apotheose der Banalität oder des Hasses ausbricht: Der einzelne wird zur Maschine, zu einem neuen Tier oder zur bloßen Strafsache totalitären Zugriffs. Gerade deshalb ist, angesichts der geschilderten Situation, das Christentum mit seinen moralischen Reserven und seiner Fähigkeit zur Umkehr auf den Prüfstand der Geschichte gerufen. Es scheint mir, als wäre heute nichts dringlicher gefragt als die aus einem messianischen Christentum entspringende moralische und politische Phantasie, die nicht einfach die Kopie von bereits in Geltung gesetzten politischen und ökonomischen Strategien wäre."

Johann Baptist Metz, Messianische oder bürgerliche Religion?

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